Martin Gutzeit
geboren 1952 in Cottbus
Pfarrer schreiben eher selten Kriegserklärungen. Doch genau das waren jene Sätze, die im Sommer 1989 ihren Weg durch die DDR-Opposition begannen: „Unsere Gesellschaft wird durch den absoluten Wahrheits- und Machtanspruch der SED bestimmt, auf den hin alle Verhältnisse in Staat und Gesellschaft geordnet sind. Die Kluft zwischen ideologischem Anspruch und Wirklichkeit tritt jedoch immer klarer hervor.“ So klare Worte konnten Festnahme, Anklage, ja Haft bedeuten. Und das Papier, das im Pfarrhaus der Kleinstadt Niederndodeleben bei Magdeburg entstanden war, ging noch weiter: „Dazu gehört eine offene Auseinandersetzung mit den Grundlagen des Stalinismus und seiner Ausprägung in Geschichte und Gegenwart der DDR.“
Ein Frontalangriff. „Natürlich wussten wir, was wir taten“, sagt Martin Gutzeit im Rückblick, einer der beiden Autoren des Textes. Mit seinem Freund Markus Meckel, dem Pfarrer von Niederndodeleben, hatte der Ost-Berliner Theologe die Idee zu dem Aufruf entwickelt. Mehr als ein Jahr schon diskutierten die beiden, wie man die SED-kritischen Gruppen mobilisieren und organisieren könnte. Am 22. und 23. Juli 1989 war es so weit: Die Freunde schrieben ihr Papier und gönnten sich eine Flasche Rotwein, als es ihnen fertig erschien.
Für Gutzeit war die Kriegserklärung an die SED eine logische Konsequenz aus seinem bisherigen Leben. Der Sohn eines Pfarrers hatte den Kriegsdienst in der NVA total verweigert und anschließend Theologie studiert, das einzige Fach, das ihm noch offenstand. Als evangelischer Vikar und Pastor, schließlich als Assistent am Sprachenkonvikt in Ost-Berlin organisierte er Gesprächskreise über Frieden und Politik – unerwünscht in einem System, das sich selbst als „Friedensstaat“ definierte. Gutzeit wusste, worauf er sich einließ: „Meine Frau und ich haben unseren Kindern gesagt, was sie tun sollen, wenn wir verhaftet werden.“ Sie ahnten, dass sie beobachtet würden, auch wenn sie nicht errieten, wie nah die Spitzel ihnen standen.
Nach dem Gründungsaufruf konstituierte sich ausgerechnet am 7. Oktober 1989, dem 40. Jahrestag der DDR, die Sozialdemokratische Partei in der DDR, abgekürzt SDP, die sich wenige Monate später in SPD umbenannte. Für seine Partei bereitete Gutzeit den Runden Tisch vor und nahm an dessen Sitzungen teil. Er stand immer für eine behutsame Wiedervereinigung, akzeptierte aber den schnelleren Weg, den die meisten Menschen in der DDR wollten. Als Abgeordneter der einzigen frei gewählten Volkskammer arbeitete er mit an der Selbstabschaffung des zweiten deutschen Staates. Losgelassen hat ihn das Thema DDR seither nie: Ob als Sachverständiger des Bundestages oder als Berliner Landesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen – Martin Gutzeit beschäftigt, wie die Revolution gegen alle Wahrscheinlichkeit friedlich bleiben und so zum historischen Glückfall werden konnte.
Sven Felix Kellerhoff