Ehrhart Neubert
geboren 1940 in Herschdorf
Er gehörte zu den wenigen wirklichen Köpfen der Friedlichen Revolution. Denn während anderswo Intellektuelle den Protest gegen das kommunistische Regime anführten, hielten sich diese in der DDR meist zurück. Nur in den Kirchen gab es eine Handvoll Akademiker, die sich mit den Möglichkeiten, die Diktatur der SED von innen zu verändern, auch theoretisch beschäftigten.
Einer von ihnen war Ehrhart Neubert, der seit 1984 in der Theologischen Studienabteilung des DDR-Kirchenbundes arbeitete. Dort untersuchte er die aufkeimende kirchliche Protestbewegung in der DDR. Im Sommer 1989 nutzte er eine Dienstreise in den Westen, um seine Analysen sogar auf einer DDR-Forschungstagung in Bonn vorzutragen – ein für damalige Verhältnisse unerhörter und nicht risikoloser Vorgang.
Neubert forschte nicht nur über die „sozialisierenden Gruppen“, wie er die unabhängigen Gruppierungen im Schutzraum der Kirchen nannte, er unterstützte sie auch. Um seine Arbeitsmöglichkeiten in der Kirche nicht zu gefährden, drängte er nicht an die Spitze der Oppositionsbewegung, sondern wirkte mit klugem Verstand und taktischem Geschick eher im Hintergrund. Und er betrieb das, was auch später seine große Stärke blieb – die Vernetzung unterschiedlicher Akteure.
Seine große, bürgerliche Wohnung in der Ost-Berliner Wilhelm-Pieck-Straße war deshalb im Herbst 1989 ein viel besuchter Treffpunkt der DDR-Opposition. Hier wurde auf seine Initiative der Demokratische Aufbruch (DA) gegründet, eine oppositionelle Bürgergruppierung, die damals noch für den „demokratischen Sozialismus“ eintrat, sich im Januar 1990 aber mit anderen Parteien zur Allianz für Deutschland zusammenschloss. Neubert wechselte damals für kurze Zeit in die Rolle eines Berufspolitikers, saß für den DA am Zentralen Runden Tisch und engagierte sich im Wahlkampf bei den ersten freien Wahlen in der DDR. Doch als die westlichen Berater von ihm verlangten, sich seine wehenden Haare abzuschneiden, lehnte er ab – und zog sich aus dieser Art von Politik zurück.
Im Januar 1990 suchte er vorübergehend sein Glück bei der Oppositionspartei Bündnis 90, aber schon bald engagierte er sich wieder dort, wo er sich am wohlsten fühlte: in freien Bürgerinitiativen. Noch 1990 trat er dem Komitee Freies Baltikum bei, das den Unabhängigkeitskampf der baltischen Staaten unterstützte. 1996 gründete er das Bürgerbüro Berlin, eine Nicht-Regierungsorganisation, die ehemalige politisch Verfolgte in ihren langwierigen Kämpfen um Entschädigung berät und deren Vorsitzender er inzwischen ist.
Und er tat wieder das, was er schon zu DDR-Zeiten am besten konnte: analysieren, referieren und vor allem glänzend schreiben. Zum 20. Jahrestag der Friedlichen Revolution schloss sich der Kreis seines Lebens, als er ein großes Werk über den Untergang der SED-Diktatur vorlegte: Unsere Revolution lautete der Titel – doch was die geistige Vorbereitung auf den Umbruch in der DDR anbetrifft, hätte es auch Meine Revolution heißen können.
Hubertus Knabe