Jens Reich

geboren 1939 in Göttingen

In der spießbürgerlichen Welt der DDR gehörte für viele zum Widerstehen ein antibürgerlicher Habitus. Das machte es der Opposition und der späteren Bürgerbewegung schwer, in Teilen der Gesellschaft anzukommen, wahrgenommen und ernst genommen zu werden. Professor Jens Reich schlug da Brücken, ob nun gewollt oder unbeabsichtigt. Er wurde zu einer Identifikationsfigur einer unübersichtlichen, aber kraftvollen Freiheitsbewegung. Denn das Neue Forum, zu dessen Initiatoren er zählte, zog seine Kraft gerade daraus, mit einem zwar klaren, aber weiten, mit einem deutlichen, aber ungewissen Aufruf fast jede und jeden anzusprechen. Und weil diesen Aufruf Männer und Frauen aus fast allen Regionen und sozialen Gruppen verbreiteten, konnte er seine Wirkung erzielen. Niemand vermochte sich mit dem Argument zu entziehen, dies sei ja nur ein Berliner oder Leipziger Aufruf, ein Appell nur von Theologen, Bürgerrechtlern oder Ausreisewilligen. Zur Massenmobilisierung trug entscheidend bei, dass fast alle vertreten waren, sogar ein Professor.

Der Arzt und Molekularbiologe war 1989 im März 50 Jahre alt geworden. Seit dem schicksalhaften Jahr 1968 arbeitete er an der Akademie der Wissenschaften. Mitte der 1980er Jahre begann Jens Reich, bei oppositionellen Veranstaltungen seine Stimme einzubringen. Im Westen publizierte er unter einem Pseudonym Artikel. Für Bärbel Bohley und Katja Havemann war Reich eine jener Personen, die sie für ihr Vorhaben, eine breite Sammlungsbewegung zu initiieren, dringend benötigten.

Zum Gründungstreffen des Neuen Forums in Grünheide bei Berlin am 9. und 10. September 1989 kam Jens Reich – ebenso wie Rolf Henrich – gut vorbereitet mit einem Textentwurf. Nach einigen Debatten war aus beiden Entwürfen der berühmte Aufruf entstanden. In den folgenden Wochen und Monaten avancierte Jens Reich zu den bekanntesten Gesichtern und Stimmen des revolutionären Aufbruchs. Auf der großen Kundgebung am 4. November 1989 auf dem Ostberliner Alexanderplatz sprach er für das Neue Forum, später saß er in der ersten frei gewählten Volkskammer. Er verlieh den Bürgerbewegungen mit seiner besonnenen und ruhigen Art jene Solidität, die viele Menschen den meisten Bürgerbewegten aufgrund ihres eher unbürgerlichen Habitus nicht zutrauten. Obwohl er sich 1994 als unabhängiger Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten bewarb, dabei viele Sympathien errang, aber im Poker der großen Parteien chancenlos blieb, zog es ihn schnell zurück in die Wissenschaft.

Jens Reich zählt neben Richard Schröder zu den ganz wenigen ostdeutschen Intellektuellen, die zwar keine Partei- oder Wahlämter bekleiden, die aber seit über 20 Jahren gesamtdeutsch gehört werden. Zahlreiche Ehrungen und Auszeichnungen zeugen davon, nicht zuletzt Reichs Berufung in den Nationalen Ethikrat, dem er ab 2001 angehört.

Ilko-Sascha Kowalczuk

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