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- „Wir gehören auf die Straße“ - Michael Heinisch über eine Demo gegen Wahlbetrug am 7. Juni 1989
In unserer Gesprächsreihe „Fundstücke“ stellen Ausstellungsmacher und Zeitzeugen der Revolution Fotos, Filme und Dokumente aus der Open-Air-Ausstellung vor, die ihnen besonders wichtig sind. Michael Heinisch war Mitinitiator der Wahlkontrollen im Mai 1989. Empört über die Fälschung der Kommunalwahlen in der DDR, beschloss eine kleine Gruppe, die sich „mündige Bürger“ nannte, am 7. Juni 1989 gemeinsam vor das Staatsratsgebäude zu ziehen. Die Demonstration endete, wo sie begonnen hatte – an der Sophienkirche in Berlin-Mitte. Im Gespräch mit Anja Karrasch erzählt Michael Heinisch die Geschichte eines Fotos, auf dem die nur wenige Sekunden dauernde Aktion zu sehen ist.
Herr Heinisch, wie ist das Foto entstanden?
Das ist der Schnappschuss einer Demo, die gerade mal so lange dauerte, wie wir von der Berliner Sophienkirche bis zum Tor an der Großen Hamburger Straße gelaufen sind. Nachdem wir den Betrug bei den Kommunalwahlen am 7. Mai 1989 aufgedeckt hatten, protestierten wir mit Eingaben an den Staats- und Ministerrat und die Stadtverordnetenversammlung gegen die Wahlfälschung. Normalerweise wurden in der DDR Eingaben innerhalb von vier Wochen beantwortet. Schnell wurde klar, dass wir keine Reaktion bekommen würden. Deshalb beschlossen wir, uns immer am 7. eines Monats zu treffen und öffentlich zu protestieren.
Geplant war die Aktion ursprünglich am Konsistorium in der Neuen Grünstraße, dem Verwaltungsgebäude der Evangelischen Kirche. Was hatten Sie vor?
Es war abgemacht, dass wir uns in der Neuen Grünstraße treffen, weil dort ein Jahr zuvor viele von uns bereits gegen die Zensur der Kirchenzeitung demonstriert hatten. Einige von uns waren entschlossen, von dort in Richtung Staatsratsgebäude zu gehen. Deshalb hatten wir ein Transparent und eine hölzerne Wahlurne mit dem Spruch „Hier ruht die Demokratie“ mitgebracht. Wir hatten damals engen Kontakt zur Orange-Alternative in Polen, eine anarchistische Untergrundbewegung. Von denen hatten wir gelernt, über die täglichen Absurditäten in der DDR zu lachen und diese mit satirischem Humor zu kommentieren. So entstand der Spruch auf dem Transparent „Nie genug vom Wahlbetrug“. Auf dem Schwarz-Weiß-Foto trage ich es zusammen mit meinem Freund Stefan Müller. Was man nicht sieht: Die Schrift ist orange! Wir dachten, deshalb werden sie uns schon nicht mitnehmen. Sie machen doch genau das, dagegen können sie doch nichts haben (lacht).
Wieso platzte die Aktion in der Neuen Grünstraße erst einmal?
Dort war alles voll mit Stasileuten, die das Gelände abgeriegelt hatten. Stasi und Polizei war durch Spitzel unter uns längst bekannt, dass wir uns dort treffen wollten. Sie hatten mit IKARUS-Reisebussen hunderte Ordnungskräfte dorthin gefahren. Es war absurd, weil wir nur etwas mehr als ein Dutzend Leute waren. Um zum Hof der Kirchenverwaltung zu kommen, musste ich über Mauern klettern. Aber immerhin kam ich an.
Martin Michael Passauer, Referent von Bischof Forck und Pfarrer der Sophienkirche, und Wolfram Hülsemann, damals Stadtjugendpfarrer, redeten dort auf uns ein und wollten uns davon abhalten, mit dem Transparent auf die Straße zu gehen. Sie befürchteten, dass wir verhaftet würden. Wir hielten dagegen, dass wir gar keine Demonstration vorhätten, sondern lediglich ein Erinnerungsschreiben über unsere Eingabe zum Wahlbetrug beim Staatsrat abgeben wollten. Der Staatsrat war ja in zehn Minuten zu Fuß erreichbar. Wir hätten eben nur alle zufällig den gleichen Weg. Die Kirchenvertreter verhandelten schließlich mit Polizei und Stasi, die sich bereiterklärten, uns zur Sophienkirche gehen zu lassen. Allerdings unter der Bedingung, dass keine Transparente gezeigt würden.
Gelangten Sie ohne Probleme bis zur Sophienkirche?
Ich befürchtete, dass man mir auf dem Weg zur Sophienkirche mein Transparent wegnehmen würde, da ich ja unter ständiger Stasi-Beobachtung stand. Wolfram Hülsemann bot an, das Transparent mit der Wahlurne in seinem Auto zu transportieren. Er war immerhin der Stadtjugendpfarrer mit einem Wartburg, während ich nur der rebellische Diakon mit dem Trabi war. Das gab es schon Statusunterschiede (lacht). Ich habe unter der Bedingung zugestimmt, dass ich das Transparent später ohne Wenn und Aber wieder von ihm ausgehändigt bekomme. Und dann sind wir durch eine Gasse gelaufen, die die „Verunsicherungskräfte“, wie wir sie nannten, gebildet hatten. Um 17 Uhr trafen wir uns in der Sophienkirche. Dort kamen viel mehr Leute zusammen, etwa hundertfünfzig, weil man von allen Seiten auf das Grundstück konnte. Ich hatte immer noch vor, zum Staatsratsgebäude zu gehen, aber die Reisebusse mit Polizei und Stasi waren uns gefolgt und umstellten das Grundstück.
Was ging in dieser Situation in Ihnen vor?
Für mich war dieser Tag einer der Wendepunkte. Die Zeit war einfach vorbei, in der ich mir hätte vom Staat vorschreiben lassen, wann und wohin ich zu gehen habe. Ich bewegte mich inzwischen als mündiger Bürger, der selbst entscheidet und sich nicht von irgendjemanden den Weg verbieten lassen wollte. Zudem war Kirche für mich nicht mehr der geeignete Ort, wo ich dies leben konnte. Kirche bot zwar einen Raum, in dem sich Menschen treffen konnten, politisch wollte sie nicht wirklich Einfluss nehmen. Das wollte ich aber. Politischer Protest gehörte für mich in dieser Zeit schlicht auf die Straße.
Sie gingen also in Konfrontation zu Michael Passauer und Wolfram Hülsemann?
Ich hatte ja die Zusage, dass ich mein Transparent bekommen würde und brauchte nur jemanden, der es mit mir halten würde. Mein Freund Stefan Müller wollte mitmachen. Er ging zu Passauer und Hülsemann, um Bescheid zu geben. Die beiden versuchten ihn zu beruhigen, denn er rief laut, „Ich gehe jetzt auf die Straße“. Ich stand bereits. Laut rufen ist eher nicht meine Lieblingsbeschäftigung. Losgehen, wenn es dran ist, schon. Passauer kam zu mir, hielt mich fest und sagte: „Das geht nicht. Überleg dir das genau, sie werden dich festnehmen und ausweisen“. Da habe ich mich umgedreht und gesagt „Passauer, es ist vorbei, halt einfach das Maul“. Hülsemann gab uns das Transparent und die Wahlurne und dann sind Stefan, ich und noch zwei andere Leute losgelaufen. Ich dachte, das ist aber ganz schön still hinter uns und möglicherweise sind wir nur zu viert. Als ich mich halb umgedrehte - das ist der Moment auf dem Foto - gingen immerhin etwa fünfzig Leute mit uns.
Aber Sie kamen nicht weit. Welche Folgen hatte die Demonstration?
Gleich am Tor rief ich den Polizisten zu „Machen Sie bitte Platz. Lassen Sie uns durch!“ Aber es war kein Durchkommen. Wir setzten uns auf die Straße und machten eine Sitzblockade. Dabei hielten wir das Transparent immerhin zehn Sekunden hoch, dann verloren wir das Tauziehen gegen hunderte Polizisten. Die Wahlurne wurde sofort vor Ort zertreten. Wir wurden weggetragen und mit den Reisebussen ins Gefängnis nach Rummelsburg gebracht, wo sie uns eine Nacht lang festhielten und verhörten. Am nächsten Morgen konnten wir wieder gehen. Ich wollte Anzeige erstatten wegen Diebstahl meines Transparents, aber ich fand niemanden, der sie entgegennahm.
Michael Heinisch erlebte früh Ausgrenzung in der DDR-Diktatur. Gründe dafür waren seine Herkunft aus einer Pfarrers- und Kantorinnenfamilie und die Verweigerung der Mitgliedschaft in den DDR-Pflicht-Organisationen "Junge Pioniere" und "Freie Deutsche Jugend". Er wurde in verschiedenen Friedens- und Bürgerrechtsgruppen aktiv und legte sich für die Abschaffung der Diktatur und Aufbau einer Demokratie mit dem SED-Staat an. Seit der Wiedervereinigung initiiert und betreut der gelernte Elektriker und ausgebildete Sozialdiakon Projekte für Kinder, Jugendliche und Familien. Seit 1990 leitet der heute 52-Jährige die sozialdiakonische Arbeit in Berlin-Lichtenberg und Treptow-Köpenick und hat hierfür die Sozdia Stiftung Berlin – Gemeinsam Leben Gestalten gegründet.